Neue kurzschriftgeschichtliche Erkenntnisse
im
Zusammenhang mit den ‘griechischen’ und ‘chaldäischen’ Zahlzeichen
Eine Buchbesprechung von Dr. Martin Hellmann,
Seminar für
Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit
Seminarstr. 3, 69117
Heidelberg
David A. King: The ciphers of the monks. A forgotten
number-notation of the Middle Ages. Stuttgart 2001.
505 S, geb., 102 € (Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte
der Mathematik und der Naturwissenschaften 44)
Den Spezialisten für die Erforschung des Mittelalters, zumindest den
Handschriftenforschern, war hauptsächlich durch einen Aufsatz von Bernhard
Bischoff «Die sogenannten ‘griechischen’ und ‘chaldäischen’
Zahlzeichen des abendländischen Mittelalters» (Mittelalterliche Studien.
Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturgeschichte I, 1966,
S. 67 – 73 und Taf. 6 f.) eine besondere Zahlenschreibweise
bekannt, die in einigen Handschriften des späten Mittelalters zu finden ist. Es
schien nur eine von vielen Kuriositäten in mittelalterlichen Handschriften zu
sein, unter Geheimschriften und spielerisch verwendeten fremdartigen
Schriftzeichen.
Doch diese Zahlenschreibweise war ziemlich weit verbreitet und kann im
Vergleich mit allen anderen bekannten Zahlenschreibweisen als geradezu genial
gelten. Zu fest ist die Vorstellung von der unschlagbaren Überlegenheit unserer
heutigen (indisch-arabischen) Zahlenschreibweise in den Köpfen verankert, dass
es einem Spezialisten für arabische Wissenschaftsgeschichte vorbehalten blieb,
ein Buch über diese Zahlzeichen zu schreiben. Er nennt sie schlicht ‘Ziffern’
und macht damit einem Wildwuchs missverständlicher Benennungen ein Ende.
Besonders interessant sind die Ziffern aufgrund ihrer engen Verbindung mit
der Geschichte der Kurzschrift. Die älteste Darstellung der Ziffern befindet
sich in der Chronik von Matthäus Paris, der zum Jahre 1252 berichtet, dem
Todesjahr von John of Basingstoke, dass dieser die Zeichen in Athen kennen
gelernt hat, wo sie sowohl für Zahlen als auch für Buchstaben verwendet
würden. Nach der alten und ausführlichen Diskussion unter den Gelehrten der
Stenographiegeschichte, die die Beziehungen zwischen den Basingstoke-Ziffern und
dem Akropolis-System betrifft, hat King vielleicht etwas zu unkritisch die
Zusammenhänge als offensichtlich hingestellt. Nichtsdestoweniger setzte er sich
durchaus intensiv mit den stenographiehistorischen Arbeiten auseinander; der
Frage, wie man sich die historischen Zusammenhänge vorzustellen hat, geht er
aber aus dem Wege.
Meines Erachtens kommen zwei Wege in Frage. Einerseits könnte ein derartiges
Ziffernsystem vom 4. Jahrhundert v. Chr. – so die Datierung der
Akropolis-Inschrift – bis ins 13. Jahrhundert n. Chr. im Volk
kontinuierlich verwendet worden sein, ohne dass es in der Zwischenzeit jemals
einen Niederschlag in der schriftlichen Überlieferung gefunden hätte. Dies
hält man vielleicht nur deswegen für unwahrscheinlich, weil man die Griechen
vor allem als literarisches Volk kennt. Andererseits muss man berücksichtigen,
dass die Steininschrift, die das sogenannte Akropolis-System beschreibt, die
gesamte Zeitspanne vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis heute überdauert
hat. Und eine in Stein gemeißelte Beschreibung eines Kurzschriftsystems ist
doch wirklich etwas Ungewöhnliches.
Ich finde, dies zeigt, dass das Akropolis-System nicht nur im
4. Jahrhundert v. Chr. eine nennenswerte Bedeutung hatte, sondern dass
es für Wert befunden wurde, als kulturelle Errungenschaft für die Nachwelt
konserviert zu werden. Wenn die Inschrift auf der Akropolis öffentlich
zugänglich war, konnte sich also ein interessierter Athener jederzeit mit dem
Schriftsystem auseinandersetzen, es sich zu eigen machen, auch wenn es sich in
der allgemeinen Praxis nicht durchgesetzt hat. Insbesondere kann Basingstoke die
Inschrift kennen gelernt haben, vielleicht von einheimischen Interessierten
darauf aufmerksam gemacht worden sein. Wenn Basingstoke nun sagte, die Athener
verwenden es heute noch, so wird man ihm diese kleine Ungenauigkeit im Bericht
über ein fernes Land wohl zugestehen müssen.
Da sich in der Spätantike eine ganz andere Art der Stenographie über den
gesamten griechischen Sprachraum verbreitet hatte, über die wir aus der
Literatur der Kirchenväter und den Schriftdenkmälern der Papyri und
Wachstafeln aus Ägypten ein viel detaillierteres Wissen haben, und in
hochbyzantinischer Zeit ein weiteres tachygraphisches System Verbreitung
gefunden hatte, das in vielen Handschriften vorkommt, das sogenannte
Grottaferrata-System, kann man die praktische Verwendung des Akropolis-Systems
in der Zwischenzeit ausschließen – wenn auch mit gewissen Vorbehalten. Seine
praktische Verwendung als Zahlenschreibweise müsste durch irgendwelche
Zeugnisse aus byzantinischer Zeit bestätigt werden. Seine Präsenz als geniale
Erfindung aus klassischer Zeit in Gestalt einer Originalinschrift, zumindest bis
in die Zeit von Basingstoke, scheint mir dagegen nicht allzu abwegig.
Die Diskussion um das Akropolis-System hat neuerdings H. Dieter Burkert
in seinem Aufsatz «Gab es eine Proto-Tachygraphie?» (Die alten
Sprachen im Unterricht 2/2000, S. 17 – 33, und
3/2000, S. 24 – 36) wieder aufgenommen. Allerdings setzt er
sich in erster Linie mit der Prioritätsfrage zwischen griechischer und
römischer Tachygraphie auseinander. Meines Erachtens kann es bei der
Prioritätsfrage, die zuletzt Herbert Boge zugunsten der römischen Tachygraphie,
der tironischen Noten, entschieden hat, nur darum gehen, zu entscheiden, welche
der beiden in der christlichen Spätantike verwendeten Stenographiesysteme das
ursprüngliche ist. Das griechische oder das lateinische? Denn diese
beiden Systeme hängen eng miteinander zusammen.
Schrifttypologisch sind beide als morphologische Schriften zu klassifizieren.
Ihre kleinsten bedeutungstragenden graphischen Einheiten sind Morpheme, nämlich
Wortstamm und Flexionsendung. Das Zeichen für die wichtigste Flexionsendung –
im Lateinischen -is, im Griechischen
ist in beiden Systemen ein
ansteigender, spitz auslaufender Strich . Die sprachgeschichtlich äquivalenten Flexionsendungen -um im Lateinischen und
im Griechischen werden in beiden Systemen durch einen fallenden,
stumpf auslaufenden Strich
bezeichnet. Diese beiden Übereinstimmungen sind die signifikantesten.
Die ausschlaggebenden Indizien für das höhere Alter der tironischen Noten
sind folgende. Die tironischen Noten sind nach dem Befund der erhaltenen
Notenverzeichnisse über einen längeren Zeitraum immer weiter entwickelt
worden. Das System ist natürlich gewachsen, und die daraus resultierenden
Inkonsequenzen der Systematik sind nie bereinigt worden. Die erhaltenen
Verzeichnisse der griechischen Tachygraphie stellen hingegen ein konsequent
durchkonstruiertes, für ökonomisches Lernen geschaffenes Lehrgebäude dar. Es
liegt die Erklärung nahe, dass es aufgrund jahrhundertelanger Erfahrung im
Lateinischen in einem Guß entwickelt wurde.
Direkte Indizien sind die tachygraphischen Fachtermini lateinischen Ursprungs
im Griechischen, wie beispielsweise griechisch vom lateinischen notarius
für den Schnellschreiber oder griechisch vom lateinischen commentarius
für das handbuch- oder lehrbuchartige Notenverzeichnis. Freilich ist auch in
dieser Frage das letzte Wort möglicherweise noch nicht gesprochen.
Burkert hingegen legte die Prioritätsfrage dahin gehend aus, zu entscheiden,
ob das Akropolis-System, das ohne Zweifel älter ist als die tironischen Noten,
schon als vollwertiges Kurzschriftsystem gelten kann. Dass daran kaum Zweifel
bestehen sollte, gelingt Burkert überzeugend darzustellen. Interesse für diese
Frage zu wecken, gelingt ihm weniger. Schon lange bekannt, aber auch von Burkert
zu wenig betont, von King hingegen mit dem naiven Blick des Quereinsteigers klar
erkannt (S. 62), ist die Tatsache, das bestimmte in den tironischen Noten
verarbeitete Buchstabenformen für p, t, g und l mit entsprechenden, unabhängig
erschlossenen Formen des Akropolis-Systems übereinstimmen. Die einzelnen Formen
lassen zwar nur mit einer gewissen, jeweils unterschiedlichen Signifikanz auf
eine Abhängigkeit schließen, die betreffende Form des g kann aber auch mit
großer gestalterischer Fantasie kaum anders erklärt werden.
Auch in der Geschichte der Ziffern spielen die tironischen Noten eine Rolle.
In einem Brieftraktat des späten 12. Jahrhunderts, der ebenfalls in
England entstand und von Valentin Rose in seinem bedeutenden Aufsatz «Ars
notaria. Tironische Noten und Stenographie im 12. Jahrhundert»
(Hermes 8, 1874, S. 303 – 326) John of Tilbury zugeschrieben wurde, aber
immer noch nicht vollständig ediert ist, wird mit Hilfe von Ziffern, die als
Buchstaben verwendet werden, eine geometrische Kurzschrift entworfen, die die
Unzulänglichkeiten der tironischen Noten überwinden sollte. Diese Ziffern sind
zwar verschieden von denen, die mit John of Basingstoke verbunden werden, ein
Zusammenhang mit diesen muss auf Grund der räumlichen und zeitlichen Nähe
dennoch angenommen werden. Aus chronologischen Gründen sollten eher die Zeichen
von John of Tilbury Vorbild für diejenigen von John of Basingstoke sein.
Damit erübrigte sich aber der direkte Zusammenhang mit dem Akropolis-System
im Sinne der Notiz von Matthäus Paris. Diese könnte dann eher unter die
fantasievollen Vorstellungen über Athen gerechnet werden, die zu dieser Zeit in
England herrschten (vgl. Walter Berschin: Griechisch-lateinisches Mittelalter,
Bern/München 1980, S. 296) und die noch Bernhard Bischoff zu der
lapidaren Ansicht veranlassten, einen "Zusammenhang der ‘Ars notaria’ mit
dem altgriechischen Akropolissystem (gleichfalls einem ‘Stabsystem’) nach
wie vor abzulehnen”.
Ähnlich ablehnend reagiert übrigens auch King im Hinblick auf den
Kulturbereich, in dem er sich am besten auskennt. Denn auch in arabischen
schriftkundlichen Traktaten kommen ziffernartige Zeichen vor. Einen Zusammenhang
dieser arabischen Tradition mit dem Akropolissystem will er zwar nicht
ausschließen, einen direkteren Zusammenhang der europäischen mit den
arabischen Zeichen hält er hingegen für extrem unwahrscheinlich: „there is
no connection whatsoever with the continental monastic ciphers, although the
possibility that these arabic codes go back to some undocumented classical
antecedent, which in turn was related to the Acropolis shorthand, cannot be
ruled out”. Die Zusammenhänge sind wahrscheinlich komplizierter, wohl auch
nicht dokumentiert und womöglich auch nicht mehr zu rekonstruieren.
Die Zeichensysteme, die King unter den Begriff ‘Ziffern’ subsummiert,
unterscheiden sich durchaus in der Art und Weise der graphischen Gestaltung so
weit voneinander, dass man sie mit einiger Berechtigung auch als
unterschiedliche Systeme begreifen kann. Der Erfolg von Kings Ansatz besteht
aber zu einem wesentlichen Teil darin, dass er sich in der Darstellung von einer
fundamentalen Gemeinsamkeit aller dieser Systeme leiten lässt: Ein vorgegebener
Strich wird durch kleine graphische Elemente ergänzt, deren Position und Form
die Bedeutung trägt. So gelingt es ihm, den gesamten Komplex von Systemen als
Modifikationen ein und desselben Systems aufzufassen, das von den verschiedenen
Benutzern und Theoretikern mehr oder weniger gut bestimmten Anforderungen
angepasst wurde. Diese Sichtweise ist die des Mathematikhistorikers und nicht
des Stenographiehistorikers, da diese fundamentale Gemeinsamkeit in der
Geschichte der Zahlsysteme eine Besonderheit darstellt, während die Geschichte
der geometrischen Kurzschrift eher von den feinen Unterschieden in der
graphischen Gestaltung und ihrer Anpassung an praktische Anforderungen lebt.
Der zentrale Gegenstand von Kings Werk sind die Ziffern in Handschriften,
vornehmlich des 14. Jahrhunderts, aus Zisterzienser-Klöstern, deren
Vorläufer die englischen Ziffern sind. In diesen Handschriften sind die Ziffern
für vielfältige Zwecke und in sehr intelligenter Art und Weise verwendet.
Insbesondere wurde ausgenutzt, dass die Ziffern gegenüber der römischen
Zahlenschreibweise bei großen Zahlen äußerst platzsparend sind.
Verwendung fanden sie beispielsweise in enzyklopädischen Registern zu
umfangreichen Werken oder ähnlichen Formen der Wissensorganisation und
Informationstechnik, die im späten Mittelalter einen großen Aufschwung nahmen.
Auch in Handschriften wissenschaftlichen Inhalts kommen die Ziffern vor. Es wird
deutlich, dass die Ziffern im Spämittelalter ein lebendiges Zeichensystem
waren. Die eigentliche Sensation des Buches ist die Verwendung der Ziffern
eingraviert auf einem picardischen Astrolab des 14. Jahrhunderts, das
entsprechend der Schenkungsinschrift vom Jahre 1522 nach dem Vorbesitzer ‘Astrolab
des Berselius’ genannt wird. Kein Wunder – die Astrolabkunde ist nämlich
das Element des Autors: das Astrolab des Berselius war der Schlüssel zur Welt
der Ziffern, der den Paläographen gefehlt hat.
Ein weiterer Schwerpunkt des Buches ist die konsequente Verfolgung ihres
Fortlebens in der Neuzeit. Meist werden sie im Zusammenhang mit Runen und
anderen exotischen Schriften behandelt, insbesondere von den frühen
Theoretikern der Geheimschriften und der Stenographie. Es hat sich gelohnt, dass
King im Gegensatz zu den früheren Ziffernforschern, denen er bei mehreren
Gelegenheiten gebührenden Dank abstattet, das Fortleben umfassend behandelt und
nicht nur im Rahmen eines anekdotischen Exkurses. Hier wird dem
Kurzschriftforscher allerhand geboten.
Die Sammlung aller bekannten Zeugnisse der Ziffern – Handschriften,
gedruckter Werke der Neuzeit, nicht zuletzt der Akropolis-Inschrift und des
Astrolabs, ja sogar verwandter Einritzungen beispielsweise auf Fässern – kann
mit Berechtigung Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ihre umfassende
Dokumentation durch Abbildungen ist ein Genuss. Aufgrund der Fülle des
erhobenen Materials darf man – auch bei der offensichtlich ein ganzes
Jahrzehnt umfassenden Bearbeitungszeit – dem Autor zugestehen, dass er nicht
alle relevanten Sachgebiete mit gleicher Gründlichkeit durchforscht hat.
Dass er aber alle möglichen Gebiete, die mit dem Thema des Buches zu tun
haben, in separaten Kapiteln eigens würdigt, ist meiner Meinung nach fehl am
Platz. Dies geht zu Lasten des Gewichts, des Preises und der Eleganz des
gesamten Werks. Besser ganz weggelassen wären das dürftige Kapitel über die
tironischen Noten, die „allgemeinen bibliographischen Bemerkungen” zum
Mittelalter, die Appendices über die römischen Zahlzeichen im Mittelalter oder
über die Einführung der hindu-arabischen Zahlzeichen in Europa. Kein Zweifel,
dass es sinnvoll ist, junge Menschen auf alle diese interessanten und
forschungsträchtigen Gebiete aufmerksam zu machen, aber das Buch würde auch
ohne dies die wissenschaftshistorische Forschung auf lange Zeit inspirieren.
King hat eine Leidenschaft für die Ziffern entwickelt, die man
nachvollziehen kann. Wie man mit einem relativ einfachen Zeichen eine
vierstellige Jahreszahl ausdrücken kann, demonstriert er am Ende des Vorworts.
Das soll heißen, dass die Ziffern heute gut zu gebrauchen sind und in
mancherlei Hinsicht unsere moderne Zahlenschreibweise übertreffen. Dass sie
sich am Ende des Mittelalters nicht durchsetzen konnten, bringt King in einer
recht plausiblen Argumentation mit der Revolution der beweglichen Lettern in
Verbindung. Für die kreuzweise angeordneten vierstelligen Ziffern
beispielsweise hätte man damals 10 000 unterschiedliche Klischees
benötigt.
Heute hingegen wäre die elektronische Erzeugung dieser Zeichen aus ihren
einfachen Grundelementen und ihre graphische Realisation in den
unterschiedlichsten Medien ein Leichtes. King macht sich auch Gedanken, wie man
das Ziffernsystem für das im elektronischen Bereich wichtige Hexadezimalsystem
modifizieren könnte, in welchem heute sehr unschön mit den Ziffern 0, 1, 2, 3,
4, 5, 6, 7, 8, 9, A, B, C, D, E, F gearbeitet wird. King gibt seinen Ziffern
also ein echte Chance für die Zukunft – man darf die Daumen drücken für ein
pfiffiges Management.
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