Der Spiegel des Gewissens: eine Schreib- und Leseübung

    Beilage zum Brief von Gabelsberger an Heinrich Posener

vom 18. September 1845

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Übertragung:

Lese- und Schreibmuster zur Ausbildung in Stenographie

Der Spiegel des Gewissens  

Ein Jüngling war in einem einsamen Tal geboren und im Schoß einer stillen Hütte unter den Augen eines ehrwürdigen Vaters aufgewachsen. Der Sohn war des Vaters Freude, und des Vaters Wille war auch der Wille des Sohnes, und es war ein frommes, eintrachtsvolles Leben unter ihnen.

Als aber der Jüngling eines Abends allein vor der Hütte saß und die flammende Abendsonne niederging hinter dem blauen Gebirge und in weiter Ferne das glühende Abendrot heraufstieg und den Saum des Gebirges vergoldete, da ergriff ihn eine große Sehnsucht, mit der Sonne zu ziehen, und sein Auge schloß sich die ganze Nacht nicht mehr. Und als der Morgen dämmerte, trat er zu seinem Vater und sprach: "Segne mich, Vater, und laß mich gehen in das Abendland, daß ich sehe, wo die Sonne untergeht, denn ich habe keine Rast und Ruh, weder bei Tag noch bei Nacht; es zieht mich in die weite Welt hinaus." Und der gute Vater sagte: "Gehe hin mit Gott, aber wo du auch sein wirst, sei meiner eingedenk, vergiß die guten Lehren, die ich dir gegeben, und der stillen Heimat nicht!" Dann segnete er ihn, gab ihm einen Spiegel und sagte: "Wenn du in diesen Spiegel blickst, wirst du diese Hütte sehen und das Angesicht deines Vaters, und dann wirst du meiner gedenken und ich werde dir helfen, wenn du meiner Hilfe bedarfst."

Der Jüngling ging und schritt fröhlich fort, und bald war die väterliche Hütte weit hinter ihm zurück. Als denn zum ersten Mal nach seiner Abreise die Sonne abwärts ging, lagerte er sich auf einem Hügel und sah nach dem Tal zurück, von dem er ausgegangen war, und dachte gerührt an den guten, liebevollen Vater, [nahm den Spiegel] und sah darin die freundliche Gestalt des ehrwürdigen Greises. Dann schlief er ruhig ein und die Sterne tauten milde Strahlen auf ihn. Erhabene und schöne Träume stiegen mit diesen Strahlen in die Seele des Jünglings. Und als der Morgen wieder anbrach, sprang er froh und rüstig auf, grüßte nochmals die Gegend seiner Heimat und zog dann weiter an seinem Wanderstab und immer weiter, und jeden Morgen wandte er sich gegen Aufgang nach dem Vaterhaus und beschaute im Spiegel das ehrwürdige Bild seines Vaters.

Bald kam er in bewohnte Gegenden und große, volkreiche Städte und sah der Menschen Tun und Treiben und wie sie miteinander und wieder auch gegeneinander arbeiteten, wie sie einander liebten und haßten, wie sie nach Genuß und Glück rannten, der eine auf diesem, der andere auf einem anderen Weg.

Und nachdem er eine Weile zugesehen hatte, ergriff ihn die Begierde, ein Gleiches zu tun, und er mischte sich in ihr Getümmel, rannte mit der Menge, kam aber doch nie zum Ziel. Unter diesem Treiben vergingen jedoch viele Tage, wo er sich nicht Zeit genommen hatte, in seinem Spiegel nach der Heimat zu schauen und wo er außer acht gelassen hatte, seines lieben Vaters eingedenk zu sein, denn alle seine Sinne waren bei dem, was um ihn her geschah und bei der Lust, die er genoß oder nach der er trachtete.

Da begab es sich nun, daß er eines Tages mit schlimmen Gesellen zog, die seine Gutherzigkeit zuerst mißbrauchten, dann ihn mißhandelten, beraubten, ihn bis auf den Tod schlugen und ihn dann liegen ließen auf einem einsamen Felsen, wo niemand seine Hilferufe hörte und kein Wanderer vorüberzog, der ihm erbarmend hätte zu Hilfe kommen können. Jammernd und stöhnend lag er da in seiner großen Not und blickte hinauf zu den Bergen und hinab in die Tiefen, aber es erschien keine Hilfe. Jetzt ging die Sonne unter, die feuchte Nacht stieg über seinem Haupt herauf, kein Stern schimmerte, kein erquickender Schlaf schloß seine matten Augenlider; die Stimmen der Nachtvögel kreischten aus tiefen Schluchten, der Donner rollte in den Bergen, wilde Blitze durchzuckten das schwarze Gewölk, ein alles zerstörender Hagel verheerte den Wald, und da endlich der Morgen anbrechen sollte, lag noch dichte Finsternis über der Erde.

Wehklagend erhob sich jetzt der Unglückliche von seinem harten Lager und arbeitete sich mühselig fort, um menschliche Hilfe zu finden; aber er irrte vergebens umher durch grauenvolle Schluchten und dunkles (?) Moor. Auch schmerzten ihn seine Wunden und ein quälender Durst verzehrte ihn, denn der Regen, der auf seine Zunge fiel, konnte denselben nicht stillen. Oft warf er sich nieder zur Erde. Aber die durchnäßte Erde gab ihm keine Ruhe; auch der Hunger quälte ihn jetzt, und da er seine Taschen durchsuchte, um etwa noch ein Stückchen Brot zur Nahrung zu finden, erfaßte seine Hand den Spiegel, den ihm sein Vater mitgegeben hatte, und was schon lange nicht mehr geschehen war er schaute hinein.

Aber auch der Spiegel warf nur seine eigene Jammergestalt zurück und die Verwüstung, die um ihn her entstanden war, nicht aber die stille Heimat im friedlichen Tal, noch das tröstliche Bild des geliebten Vaters. Da fing er laut zu weinen an, warf sich seine Vergessenheit vor und sein sinnloses Treiben, aus dem all sein jetziges Leiden entsprungen war, und es befiel ihn eine so glühende Scham vor sich selbst und eine so bittere Scheu, daß er, auf sein gegenwärtiges Leid fast gänzlich vergessend, seine Gedanken jetzt lediglich nur darauf richtete, wie er den Weg wieder finden könnte, zu dem liebenden Vater und in die geliebte Heimat zu gelangen. Weit größer war jetzt seine Sehnsucht nach der engen Hütte als früher nach der weiten, unermeßlichen Welt.

Wie er nun so ging und sann und sein ganzes Herz in Sehnsucht und Liebe zerfloß, da schlug der Himmel seinen Regenschleier zurück und lachte frisch und blau herein und die Vögel sangen in den Zweigen. Das Abendrot glänzte hinter den Bergen und die Brust des Wanderers schwoll von Hoffnung und erquickendem Verlangen, sich bald dem liebenden Vaterherz wieder anschmiegen zu können. Keine Beschwerde der Rückkehr hemmte ferner den Fuß des Jünglings und ein Tal eröffnete sich endlich vor seinen überraschten Blicken; und siehe, im milden Abendlicht war vor ihm die stille Heimat mit ihren Bäumen, und, von den Strahlen umflossen, trat der gütige Vater unter dem Laubendach hervor und öffnete dem Ankommenden die Arme. Und der Sohn sank weinend zu des Vaters Füßen und dieser drückte ihn an die Brust.

Bald waren seine Wunden geheilt und der Schmerzen wurde nicht mehr gedacht. Nimmer aber entschwand auch dem liebenden Sohn das Bild des ehrwürdigen Vaters, auch nachdem dieser längst hinübergegangen war in die Gefilde der ewigen Freude.
 

(Übertragung des Originalmanuskripts: Hans Gebhardt, Eckersdorf, August 2000)

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